Endlich wird es wärmer, die Natur erwacht, und die Weiden leuchten in saftigem Grün. Dein Pferd zeigt bereits deutliches Interesse am frischen Gras und kann es kaum erwarten, wieder auf die Koppel zu dürfen. Doch hier ist Vorsicht geboten! Der Übergang von Winterfutter zu frischem Gras stellt für den empfindlichen Pferdedarm eine große Herausforderung dar und sollte gut durchdacht sein.
Warum der Pferdedarm Zeit zur Umstellung braucht
Nach den Wintermonaten mit Heu und Stroh hat sich die Darmflora Deines Pferdes (die Mikrobiota) perfekt an trockenes Raufutter angepasst. Frisches Gras unterscheidet sich jedoch grundlegend:
- Es enthält mit 75-85% deutlich mehr Wasser als Heu (das nur etwa 12-14% Feuchtigkeit hat)
- Es ist viel eiweißreicher: Im Frühjahr enthält Gras 18-25% Rohprotein
- Es steckt voller leicht verdaulicher Kohlenhydrate und insbesondere Fruktane – spezielle Zuckerverbindungen, die im Frühjahr besonders problematisch sein können
Was Du über Fruktane wissen solltest
Fruktane sind spezielle Zuckerverbindungen (genauer: Ketten aus Fruchtzuckermolekülen), die Gräser als Energiereserve speichern. Was macht sie so problematisch?
- Fruktane können vom Pferd im Dünndarm nicht verdaut werden
- Sie gelangen unverdaut in den Dickdarm, wo sie von Bakterien sehr schnell vergoren werden
- Diese schnelle Vergärung führt zur Bildung von Milchsäure, senkt den pH-Wert im Darm und kann das empfindliche Gleichgewicht der Darmbakterien stören
- Im schlimmsten Fall drohen Koliken, Durchfall oder sogar Hufrehe
Besonders viele Fruktane bilden sich im Gras unter folgenden Bedingungen:
- An sonnigen Tagen mit kühlen Nächten (typisches Maiwetter!)
- In den frühen Morgenstunden nach kalten Nächten
- In kurz abgefressenen Weideflächen, besonders in den Halmen nahe am Boden
- Bei gedüngten Wiesen mit viel Stickstoff aber wenig anderen Nährstoffen
Die Menge an Fruktanen im Gras unterliegt täglichen Schwankungen: Morgens ist sie am höchsten, am späten Nachmittag am niedrigsten. Dieses Wissen kannst Du für das sichere Anweiden nutzen!
Der 28-Tage-Anweideplan: Schritt für Schritt zur sicheren Weide
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Darmflora mindestens 21 Tage braucht, um sich vollständig anzupassen. Deshalb ist ein 28-Tage-Plan ideal. Er gibt dem Verdauungssystem Deines Pferdes genug Zeit, sich auf das neue Futter einzustellen:
Woche 1: Behutsamer Start
- Tag 1-2: Beginne mit nur 15 Minuten Weidegang am späten Nachmittag (15-16 Uhr)
- Tag 3-4: Steigere auf 30 Minuten zur gleichen Tageszeit
- Tag 5-6: Erhöhe auf 45 Minuten
- Tag 7: Eine volle Stunde Weidegang
Wichtig: Gib Deinem Pferd vorher immer etwas Heu (mindestens 0,5 kg), damit es nicht mit leerem Magen auf die Weide geht. Das Heu im Magen puffert die schnelle Vergärung des Grases ab. Reduziere gleichzeitig die Kraftfuttermenge um etwa 25-30%, um die Gesamtzuckerzufuhr zu begrenzen.
Woche 2: Zwei Weidegänge am Tag
- Tag 8: 60 Minuten am späten Nachmittag (16-17 Uhr)
- Tag 9-10: 15 Minuten vormittags (11-12 Uhr) plus 60 Minuten nachmittags
- Tag 11-12: 30 Minuten vormittags plus 60 Minuten nachmittags
- Tag 13-14: 60 Minuten vormittags plus 90 Minuten nachmittags
In dieser Phase solltest Du den Kot Deines Pferdes besonders aufmerksam beobachten. Weicherer Kot, veränderte Struktur oder Farbe sind Anzeichen dafür, dass Du die Weidezeit zu schnell steigerst und einen Schritt zurückgehen solltest.
Woche 3: Längere Weidezeit
- Tag 15-21: 60 Minuten vormittags (11-12 Uhr) plus 120 Minuten nachmittags (15-17 Uhr)
Diese Phase ist besonders wichtig für die Stabilisierung der neuen Darmflora. Beobachte jetzt auch den Bauchumfang (eventuell mit einem Messgurt), achte auf die Pulsation an den Hufen und prüfe, ob Dein Pferd sich normal verhält. Gerade bei Pferden mit Stoffwechselproblemen (wie EMS oder Cushing) solltest Du in dieser Phase besonders vorsichtig sein.
Woche 4: Fast ganztägiger Weidegang
- Tag 22-28: 120 Minuten vormittags plus 120 Minuten nachmittags
Nach dieser vierwöchigen Eingewöhnungszeit kannst Du – je nach Konstitution Deines Pferdes, Wetterlage und Grasqualität – die Weidezeit weiter ausdehnen. Bei Pferden mit erhöhtem Risiko (Ponys, frühere Hufrehe) empfiehlt sich allerdings eine dauerhafte Begrenzung auf maximal 6-8 Stunden täglichen Weidegang.
Angrasplan
Praktische Tipps für die Anweidephase
Der richtige Zeitpunkt:
Die Fruktankonzentration im Gras verändert sich im Tagesverlauf. Nutze dieses Wissen für Deine Weideplanung:
- Früher Morgen (6-8 Uhr): Sehr hoher Fruktangehalt – meide diese Zeit!
- Später Vormittag (11-12 Uhr): Mittlerer Fruktangehalt
- Später Nachmittag (16-18 Uhr): Geringerer Fruktangehalt – optimale Weidezeit!
Die richtige Weidefläche:
- Wähle Flächen mit mindestens 8-12 cm Grashöhe, da Fruktane vor allem in den bodennahen Stängelteilen gespeichert werden
- Bevorzuge artenreiche Weiden mit Kräuteranteil (mind. 30%), da diese weniger Fruktane enthalten
- Vermeide frisch gemähte oder durch Frost geschädigte Flächen
- Bei sensiblen Pferden: Richte ein „Paddock-Trail-System“ ein, das Bewegung fördert, aber nur begrenzten Graszugang ermöglicht
Besondere Rücksicht für besondere Pferde
Nicht jedes Pferd reagiert gleich auf frisches Gras. Hier einige spezielle Anpassungen für verschiedene Pferdetypen:
Ponys und robuste Rassen:
- Sind evolutionär an nährstoffarme Umgebungen angepasst
- Verwerten Futter sehr effizient und neigen zu erhöhten Insulinwerten
- Haben ein erhöhtes Risiko für Fruktanempfindlichkeit
- Was hilft: Noch langsamere Steigerung (etwa 50% langsamer als im Plan angegeben), Einsatz eines Fressbegrenzers/Maulkorbs, der die Grasaufnahme um etwa 85% reduziert
Ältere Pferde (über 20 Jahre):
- Haben altersbedingte Veränderungen in der Darmflora
- Ihr Verdauungssystem passt sich langsamer an neue Futtersituationen an
- Haben oft Zahnprobleme, die die Futterverarbeitung erschweren
- Was hilft: Zusätzliche Gabe von präbiotischen Futterzusätzen (speziell für Pferde), regelmäßige Zahnkontrolle, eventuell eingeweichtes Heu vor dem Weidegang
Sportpferde:
- Haben einen höheren Energiebedarf für die Muskelregeneration
- Neigen unter Stress zu beschleunigter Darmpassage
- Haben ein erhöhtes Risiko für Magengeschwüre
- Was hilft: Beibehaltung einer kleinen Kraftfutterration, Ergänzung mit Ölen als alternative Energiequelle, Weidegang nicht direkt nach intensivem Training
Was tun, wenn Probleme auftreten?
Wenn Dein Pferd Anzeichen von Verdauungsproblemen zeigt (aufgeblähter Bauch, Durchfall, warme oder pochende Hufe), solltest Du sofort handeln:
- Nimm Dein Pferd von der Weide und gib zunächst nur Heu
- Sorge für ausreichend Flüssigkeitszufuhr (Wasser, ggf. mit Salz oder Elektrolyten)
- Bewege Dein Pferd sanft (Schritt führen), um die Darmtätigkeit zu fördern
- Gib bei Bedarf Probiotika, um die Darmflora zu unterstützen
- Bei Anzeichen von Hufrehe: sofort den Tierarzt rufen, kühle die Hufe mit Eiswasser
Nach einer Stabilisierung kannst Du den Anweideplan mit halbierter Weidezeit neu beginnen. Die vollständige Erholung der Darmflora nach einer Störung dauert etwa 3-4 Tage.
Was passiert bei Unterbrechungen des Anweideplans?
Die empfindliche Darmflora vergisst leider schnell ihre Anpassungsfähigkeit. Bei Unterbrechungen des Anweideplans gilt:
- Nach weniger als 7 Tagen Pause: Beginne mit der Hälfte der zuletzt erreichten Weidezeit
- Nach mehr als 14 Tagen ohne Weidegang: Starte den kompletten Plan von vorne
- Nach einer Antibiotika-Behandlung oder einer Krankheit: Immer den kompletten Plan neu beginnen
Denk daran: Die Darmbakterien brauchen etwa 8-9 Tage, um sich zur Hälfte an eine neue Situation anzupassen. Geduld ist hier der Schlüssel zum Erfolg!
Fazit: Deine Geduld zahlt sich aus
Ein systematisches, schrittweises Anweiden mag aufwändig erscheinen – aber die Investition lohnt sich! Dein Pferd wird es Dir mit stabilem Stoffwechsel, gesunder Verdauung und ausgeglichenem Verhalten danken.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig: Je sorgfältiger Du diese wichtige Übergangsphase gestaltest, desto besser wird Dein Pferd das frische Gras vertragen und desto reibungsloser verläuft die gesamte Weidesaison.
Beobachte Dein Pferd während der Anweidephase genau, passe den Plan bei Bedarf individuell an und schaffe so die Grundlage für einen gesunden Pferdedarm – die Basis für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit Deines Vierbeiners.
Merke: Die gesunde Darmflora ist das Fundament für die Gesundheit Deines Pferdes. Ein sorgfältiges Weidemanagement gehört zu Deinen wichtigsten Aufgaben als verantwortungsvoller Pferdehalter!